Gute Geister - Böse Geister
Einführung zur
Ausstellung von Rüdiger Goeritz
13.
September 2002 - 19.30 - Atelier Werkstatt, Gelsenkirchen-Buer
Wer einen Theologen bittet, die einführenden Worte zu
einer Ausstellung zu sprechen, der bekommt genau das: einen Theologen. Und so
komme ich nicht umhin, dem, was ich sagen will, eine Sequenz aus jenem Buch
voranzustellen, das die Grundlage meines Denken und Handelns bildet. Ich lese
Ihnen daraus einen Abschnitt aus dem 7. Kapitel der Weisheit Salomos (18-23):
»Anfang, Ende und Mitte der Zeiten; wie die Tage zu-
und abnehmen; wie die Jahreszeiten wechseln und wie das Jahr umläuft und
wie die Sterne stehen; die Natur der Tiere und die Kraft der Raubtiere; die
Macht der Geister und die Gedanken der Menschen; die Vielfalt der Pflanzen und
die Kräfte der Wurzeln; so erkannte ich alles, was verborgen und was
sichtbar ist; denn die Weisheit, die alles kunstvoll gebildet hat, lehrte es
mich. Denn es wohnt in ihr ein Geist, der verständig ist,/ heilig,
einzigartig, vielfältig,/ fein, behend, durchdringend,/ rein, klar,
unversehrt,/ freundlich, scharfsinnig, ungehindert,/ wohltätig,
menschenfreundlich,/ beständig, gewiss, ohne Sorge; die Weisheit vermag
alles, sieht alles, und durchdringt selbst all die Geister, die verständig,
lauter und sehr fein sind.«
Was ist es somit, dass uns die Welt in ihrer Vielfalt und
die Dinge im Einzelnen erkennen lässt? Es ist - unserem Text zufolge - die
Weisheit. Also jene geistige Kraft, die nach Ansicht der griechischen
Philosophie allen Menschen gleichermaßen innewohnt und die der
Kirchenvater Augustinus definiert als die eine "Wahrheit, in der das
höchste Gut gesichtet und erfasst wird".
Weisheit, das ist nach Augustinus Auffassung nicht
bloß theoretisches Wissen um die Dinge, sondern Einsicht in die Dinge und
Einsicht in das, was für den Menschen in letzter Hinsicht gut ist, worauf
es in seinem Dasein also entscheidend ankommt.
Mag auch jeder und jede je anders bestimmen, worauf es in
seinem Dasein entscheidend ankommt, so kommen Menschen doch alle
gleichermaßen darin überein, dass sie überhaupt auf ein
höchstes Gut und auf das damit verbundene Glück aus sind.
Es zeichnet somit die gereifte und selbstbewusste
Persönlichkeit aus, nach dieser Weisheit zu streben, die sich nicht allein
um Ansicht sondern um Einsicht in das Wesen der Dinge müht, die nach
Erkenntnis strebt und sich auf die Suche nach einer allgemein gültigen
Wahrheit macht. Mit dem christlichen Mystiker Bonaventura gesprochen ist diese
Weisheit immer auch erfahrungsmäßige Erkenntnis Gottes.
Der Verfasser der Salomonischen Weisheit - ein über
3000 Jahre alter Text im übrigen - verweist auf die Kraft, die diesem
Streben nach einer allgemeinen Weisheit und Wahrheit innewohnt. Ein reiner und
klarer Geist nämlich, der verständig ist, scharfsinnig,
feinfühlig, menschenfreundlich und beständig. Ein Geist, der dem
Heiligen Ausdruck gibt, und es vermag, auch jene menschlichen Geister zu
durchdringen und zu beseelen, die verständig, lauter und feinfühlig
sind.
Einer dieser Geister - ob jetzt ein "guter" oder
ein "böser", um das Motto der heutigen Ausstellung aufzugreifen,
das mag mal dahingestellt bleiben und eher von jenen beantwortet werden, die
das tägliche Leben mit ihm teilen - einer dieser verständigen,
lauteren und feinen Geister, von den der biblisch-apokryphe Text zu seinem Ende
spricht, ist sicherlich auch Rüdiger Goeritz.
Wer sein künstlerisches Schaffen über die Jahre
hinweg begleitet hat oder durch Anschauung seiner Werke gewahr wurde, dem ist
nicht entgangen, dass das große Thema des Fotografen, Kollagisten und
Objektkünstlers Rüdiger Goeritz die Natur ist. Oder zumindest das,
was wir heute pflegen Natur zu nennen und zu kennen - nämlich immer
gebrochen - in unserer heutigen Wahrnehmung gar zerbrochen - an der uns innewohnenden
Dialektik einer Sehnsucht nach dem Ursprünglichen und der Notwendigkeit zur
Herstellung künstlicher Umwelten unseres Überlebens zu willen.
Künstliche Welten schafft auch Goeritz. Aber seine
Arbeiten sind darauf angelegt, die benannte Dialektik zu versöhnen, denn
sie schlagen, wenn auch nur für den Moment des Betrachtens, eine
Brücke zwischen dem Ursprünglichem, nicht von Menschenhand
geprägten Dingen und Objekten der Natur zu unserer durch rationelle
Vernunft geprägten und Interessen geleiteten Wirklichkeitswahrnehmung.
Goeritz schlägt die Brücke, auf der sich die "Macht der Geister
und die Gedanken der Menschen" - wie der biblische Text paraphrasiert -
begegnen.
Wenn unser geschätzter und sachverständiger
Kulturredakteur der WAZ, Hans Jörg Loskill, in einer seiner Beschreibungen
Goeritz als einen "neugierigen und geduldigen Beobachter und einen
behutsamen Bewahrer" benennt, der unseren von der "allgemeinen
Bilderflut getrübten Blick auf den Mikrokosmos der Dinge" lenkt, so
hat er ziemlich genau getroffen, wofür Goeritz' Arbeiten stehen.
Goeritz holt die Dinge aus der Beiläufigkeit ihrer
Existenz, beseelt das Alltägliche, haucht dem Abgebildeten Leben ein und
wird - theologisch gesprochen - in einem gleichsam mit-schöpferischen Akt
dem lebensspenden Geist Gottes, dem ru'ach, dem Lebenshauch Gottes, wie es
wörtlich aus dem Hebräischen zu übersetzen ist, teilhaftig.
Das Goeritz das Gestaltungsmerkmal der Symmetrie wählt,
kommt dabei nicht von ungefähr. Symmetrie ist die allgegenwärtige
Charakterstruktur alles Lebendigen. Selbst im Chaos sind symmetrische
Strukturen konstitutiv. Also im ursprünglichen Sinne des Wortes das Wesen
einer Sache bestimmend.
Anschaulich prägt die Symmetrie unmittelbar unserer
menschliche Wahrnehmung. Im symmetrischen erkennen wir Schönheit, Vollkommenheit,
Eleganz, lassen uns spontan ansprechen und empfinden Sympathie. Die Symmetrie beseelt die Dinge auf fast mystische Weise.
Formen gewinnen einen eigenen, individuellen Charakter, heben sich als
Einzigartig hervor und bekommen so ihr unverwechselbares Gesicht.
Gesichter, lebendige Formen, beseelte Gestalten der Natur
sind es denn auch, die auf den heute hier präsentierten Arbeiten erkennbar
werden. Gute Geister und böse Geister hat Goeritz sie benannt. Kreatürliches
also, das seine Existenz weniger dem Materiellen als dem Spirituellen verdank.
Dessen Wesensmerkmale erst erkennbar werden, wenn man sich im Sinne des
Augustinischen Weisheitsbegriffs einsenkt in die Betrachtung der Dinge, um das
Verborgene im Sichtbaren zu begreifen.
Gute Geister - böse Geister weist aber auch auf die
Ambivalenz dieses Erkennens hin. Denn der positiven Resonanzerfahrung einer
gewonnen Erkenntnis, ist auch immer gleichzeitig das Erschrecken über das
Erkannte zur Seite gestellt. Ein Erfahrung, die schon Adam und Eva machen
mussten.
Das Ausgangsmaterial für die montierten Fotographien
befand sich - man mag sagen: bezeichnender Weise - in der Mehrheit auf
Friedhöfen. Auf den dort befindlichen Komposthaufen. Das Ausgangsmaterial,
der Grabschmuck, war längst seiner eigentlichen Bestimmung enthoben,
seiner primeren Verwertbarkeit entledigt, keines Blickes, keiner Anschauung,
keiner Würdigung seines Wesens mehr wert.
In einer Wirklichkeit aber, in der es dann
ausschließlich nur noch um die Verwertbarkeit der Dinge (und ich
möchte ergänzen: der Menschen) geht, verliert sich das Gefühl
von Heiligkeit und damit die Grundlage, zu Weisheit zu gelangen. Die rein
interessensgeleitete Wahrnehmung unserer Wirklichkeit führt zur Verarmung
unser seelischen Zustände.
Dem Betrachter des friedhöflichen Abfallhaufens nun mag
man es nicht übel nehmen, dass er sich wenig um das Wesen des faulenden
Grabschmuckes kümmert. Erhebt er aber seine auf Verwertung gerichtete und
damit selektive Wahrnehmungsweise zum Prinzip allen Betrachtens, bleibt ihm die
Erkenntnis der Bestimmung der Welt und seiner selbst letztlich verborgen.
Es ist der große Verdienst künstlerischer
Arbeiten, wie wir sie heute hier von Rüdiger Goeritz sehen, sich gegen
diese selektive, interessensgeleitete Wahrnehmung unsere Wirklichkeit zu
stellen. Verbunden mit dem deutlichem Appell, sich der menschlichen
Fähigkeit der Kontemplation zu erinnern und der sich in das Wesen
einsenkenden Betrachtung der Dinge immer wieder neu zu öffnen.
Aber Goeritz heute hier gezeigte Arbeiten führen den
flüchtigen Betrachter noch ein weiteres mal in die Falle seiner
eingeschränkten Wahrnehmungen. Sieht man auf die Bilder, so glaubt man:
Hat man eines gesehen, hat man alle gesehen. Das war - ich muss es zugeben -
auch meine erste Reaktion. Es bedarf also, auch hier deutlich der Anstrengung,
sich den Abbildern zuzuwenden, der eigenen innewohnenden Weisheit auf die Spur
zu kommen, um das Verborgene im Sichtbaren zu erkennen.
Vielleicht reicht es für Sie als Besucherinnen und
Besucher dieser Ausstellung wirklich, wenn sie sich auf eine der hier
präsentierten Montagen konzentrieren. Sie mögen sich zunächst
anziehen lassen von Farbe und Form, spontan einem Gefühl folgend, um sich
dann mit dem Geschauten vertraut zu machen. Denn unser aller Weisheit
wächst mit dem Vertrauen zu dem, was wir uns zueigen gemacht haben. -
Vielen Dank.
Pfr.
Thomas Schöps